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AUFSTIEG UND VERSCHWINDEN



Noa brauchte keinen besonderen Anlass, um sich aufzuschwingen, aber wie alles in seinem Leben tat er dies mit der von ihm erwarteten Konsequenz: Er setzte erst den einen Fuß, dann den anderen Fuß auf die Dunkelheit und erklomm so die Nacht. Die Finsternis empfing ihn freundlich und warm. Er ließ sich von ihr treiben, genoss die Grenzenlosigkeit des Nichts und spürte, wie es bereits an seinem Äußeren zog. Nach einer Stunde kletterte er wieder in den Tag, aus einer Laune heraus. Er konnte nicht einmal einen Grund dafür nennen. Doch bereits nach kurzer Zeit sehnte er sich nach der Nacht. An die warme Finsternis. Und so machte er es sich zur Routine, alle paar Tage hinauf in die Nacht zu steigen. Zuerst hatte er nur ein Buch mitgenommen, einen alten Band mit Erzählungen von Faulkner, doch bald schleppte er einen Stuhl, dann einen Schreibtisch, dann einen kleinen Schrank mit sich hinauf und ließ die Gegenstände gleich dort oben. Wann er mit dem Bau des Turms anfing, ließ sich im Rückblick nicht mehr sagen. Weder Freunde noch Familie hatten bemerkt, wie er die Steine transportiert hatte – es wurde nur klar, dass seine Ausflüge ins Dunkel schon viel früher begonnen hatten, als ihnen bekannt war. Bei seinem letzten Aufstieg nahm Noa die Holztür seiner Wohnung mit sich, sodass dort ein hässliches Loch klaffte, das den Blick freigab auf die leeren Räume. In der Nacht angekommen baute er die Holztür in seinen Turm und machte es sich in einem der oberen Zimmer bequem, dass er den Turm nie wieder verlassen müsse. An den schönsten Tagen schaute er von dort aus einem kleinen Fenster hinunter in das endlose Schwarz und dachte an die fernen Dinge, von denen er glaubte, dass er sie darin manchmal funkeln sah.

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