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DAS ATMEN DES HAUSES

Aktualisiert: 29. Apr. 2020



Das Haus atmet. Ich höre es, wenn ich im Treppenhaus auf den obersten Stufen stehe, wenn ich seinen Kapillaren lausche, die hinter den Wänden arbeiten. Es riecht nach Staub. Die Hitze kriecht durch das offene Fenster unter mir im Zwischengeschoss der Treppe, weswegen das Haus überhaupt erst so schwer atmet, weswegen wir alle überhaupt so schwer atmen, die Bewohner und das Haus. In der Ferne schreit eine Meise. Auf den Stufen der Treppe zeichnet das Licht durch eben dieses offene Fenster mit den Schatten ein Bild, ein paar plumpe Striche, die eine Geschichte einer Königin in einem fernen Land erzählen, ein Märchen über eine böse Stiefmutter und eine Kröte, einen Apfel, den Tod und das gute Leben. Ich setze mich auf die Stufen und schaue nach unten. Mit der Zeit verändert sich das Bild, verschieben sich die Schatten, verblasst das Licht, und ich sehe die Kröte nicht mehr, dann keinen Apfel, keine Königin und keine Stiefmutter mehr, der Tod verschwindet und auch das gute Leben. Das Haus atmet noch ein letztes Mal schwer aus, bevor endlich der Abend anbricht.


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