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Weite Teile der Literaturwissenschaften streiten sich bis heute, ob nun Ernest Hemingway oder Augusto Monterroso die kürzeste Geschichte aller Zeiten geschrieben hat. Trotz so gewichtiger Verfechter wie Umberto Eco und Philip Roth gab es hierauf nie eine befriedigende Antwort. Regten nun die stillen Kinderschuhe die Phantasie der Leser an oder das Aufwachen vor einem Dinosaurier? Wie würden sich die Institute ärgern, wenn sie wüssten, dass sie mit ihren Einschätzungen, Aufsätzen, Podien unter vollkommen falschen Voraussetzungen diskutierten. Die kürzeste Geschichte nämlich schrieb einst Italo Calvino auf einer Leserreise durch die deutsche Provinz. Während seine Bücher in Italien zwischen Wrigley‘s und Marsriegeln an den Kassen der Tankstellen lagen, hatte es sein Name in der brandenburgischen Provinz bisher kaum in die Bücherregale geschafft, weshalb sich sein deutscher Verlag dachte, ihn zumindest neben die Übersetzerin auf der Bühne zu platzieren, wo er die Hände auf die überschlagenen Beine legte und mit müden Augen der Lesung seiner ins Deutsche übertragenen Werke lauschte. Wo er vorher Eleganz und Leichtigkeit erzeugte, fühlten sich die Worte in seinen Ohren jetzt wie ein Pflug an, der durch trockene Erde fährt. Wenige Stunden später, der Autor nahm nach dem Abend noch eine Currywurst in einem dunklen Imbiss zu sich, holte er sein Notizbuch aus der Jackentasche und schrieb nur drei Worte, nicht vier Worte wie Hemingway, und auch nur eine Ellipse, das Rudiment eines einst schönen Satzes, nicht wie Monterroso einen vollständigen Satz samt Nebensatz. Calvino schrieb über das Haus auf der anderen Seite, seine Gewöhnlichkeit, seine drei Etagen, die beige Wand – und das alles in nur drei Worten voller Gewicht, wie er es sonst in keinem seiner Werke tat. Wenige Tage später legte er die Geschichte seinem italienischen Verleger vor, der, begeistert, dieses Stückchen Literatur unbedingt veröffentlichen wollte. Es erschien auf einem Flugblatt mit besonders schlechter Papierqualität. Ein Wasserschaden im Keller des Verlagsgebäudes und sehr schlechte Verkaufszahlen, wer las schließlich abends im Bett ein Flugblatt, wenn er genauso gut zu Wenn ein Reisender in einer Winternacht greifen konnte, ließen die kürzeste Geschichte aller Zeiten in Vergessenheit geraten. Nur noch eine Biographie zu Italo Calvino aus dem Jahr 1983 enthält einen Hinweis auf den Text, ansonsten finden sich Andeutungen in einigen Fußnoten, verteilt über mehrere Monographien zur italienischen Literatur. Calvino selbst erwähnte diese Geschichte nie, hielt er sie doch für vollkommen misslungen, nannte sie nur einst im Gespräch mit einer nahen Verwandten: Fragment einer sichtbaren Stadt. Und dass ausgerechnet ihm dieser Text einfiel, konnte er sich bis zu seinem Tod nicht verzeihen.

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Es ist gemeinhin bekannt, dass manchen Menschen die Fähigkeit gegeben ist, durch Wände gehen zu können. Einst als Zaubertrick verrufen, lockte der Anblick einer Person, die auf der einen Seite einer Wand verschwindet und auf der anderen Seite auftaucht, bald niemanden mehr aus der Reserve, so alltäglich war die Sache. Jedoch sorgen die zugehörigen Zwischenfälle noch heutzutage für Schlagzeilen in den mittelgroßen Zeitungen der Republik. Zuletzt die Geschichte von Julia Spekter, die durch die Wand eines Reihenhauses gehen wollte, um zwei Freunde von ihrem Können zu überzeugen. Doch sie tauchte weder im Inneren des Hauses, genauer im Wohnzimmer im freien Platz zwischen Schrankwand und Glasvitrine mit gesammelten Figuren aus Kirschholz, einer Kunst aus dem Schwarzwald, noch wieder im Garten auf, wo ihre beiden Freunde mindestens zwanzig Minuten warteten, bis sie an der Haustür klingelten und die Rettungskräfte riefen. Es ließ sich nicht rekonstruieren, was mit Julia Spekter passierte. Auch in der Wand fand man sie nicht. Auf Klopfzeichen gab es keine Antwort. Die Geschichte geriet kurz in die Presse, bevor sich niemand mehr an sie erinnerte. Dreiundvierzig Jahre später riss man das Gebäude ungeachtet dessen ab. Und hätten die Arbeiter Julia Spekter gekannt, sie hätten beim Abriss bemerkt, dass der Duft ihres Parfüms zwischen Staub und Geröll einen Moment in der Luft lag.

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Manche Menschen glauben, Dryaden hätte es nie gegeben, aber sie könnten mit dieser Annahme kaum mehr irren. Bereits in der Antike nutzten Dryaden die Wurzelwerke von Efeu und Schwarzpappeln, deren Spitzen so weit unter die Erde reichen, dass sie dort die Zeit berühren. Aufgrund ihrer kleinen Statur ist es den Dryaden möglich, sich durch diese sich auftuenden Schlupflöcher zu bewegen, um so in manchen Epochen der Weltgeschichte gar nicht zu erscheinen, während sie etwa zu den Napoleonischen Kriegen oder der Stunde Null in Gebüschen und Wäldern zu finden waren. Ihr schüchternes Wesen sorgt dafür, dass nur wenige Menschen sie sehen. Doch die Schlupflöcher in Efeu und Schwarzpappel bieten ihnen nicht nur Zuflucht, sondern auch Schutz. Tief in der Erde finden sie jene Kammern, in denen die Zeit nicht mehr vergehen kann, sodass einzelne Dryaden die ersten Kutschen und den ersten Atombombenwurf gleichermaßen sahen und in ihren Leben nicht mehr als ein Wimpernschlag dazwischenlag.

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