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Mach nur noch einen Schritt, um aus der Zeit zu fallen, ich bitte Dich, komm her, komm in die Schatten und lass uns dort traurig sein, mehr will ich nicht, mehr kann ich nicht verlangen, lass mich verstummen und verschwinden, lass mich auf dem Ziffernblatt aufschlagen, zwischen den Zeigern verschwinden, ich will keine Zeit mehr, lästig, unnütz, kann sie nicht abschreiten, kann sie nicht fassen und doch zieht sie an mir, zieht sie an uns, dass wir nie ein Glück halten können, dass wir in ihr untergehen wie zwischen Wellen und Flut und Sturm, und dabei nicht einmal wissen, wo oben oder unten ist, deswegen: Mach bitte nur noch einen Schritt, ich bitte Dich.

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Noa brauchte keinen besonderen Anlass, um sich aufzuschwingen, aber wie alles in seinem Leben tat er dies mit der von ihm erwarteten Konsequenz: Er setzte erst den einen Fuß, dann den anderen Fuß auf die Dunkelheit und erklomm so die Nacht. Die Finsternis empfing ihn freundlich und warm. Er ließ sich von ihr treiben, genoss die Grenzenlosigkeit des Nichts und spürte, wie es bereits an seinem Äußeren zog. Nach einer Stunde kletterte er wieder in den Tag, aus einer Laune heraus. Er konnte nicht einmal einen Grund dafür nennen. Doch bereits nach kurzer Zeit sehnte er sich nach der Nacht. An die warme Finsternis. Und so machte er es sich zur Routine, alle paar Tage hinauf in die Nacht zu steigen. Zuerst hatte er nur ein Buch mitgenommen, einen alten Band mit Erzählungen von Faulkner, doch bald schleppte er einen Stuhl, dann einen Schreibtisch, dann einen kleinen Schrank mit sich hinauf und ließ die Gegenstände gleich dort oben. Wann er mit dem Bau des Turms anfing, ließ sich im Rückblick nicht mehr sagen. Weder Freunde noch Familie hatten bemerkt, wie er die Steine transportiert hatte – es wurde nur klar, dass seine Ausflüge ins Dunkel schon viel früher begonnen hatten, als ihnen bekannt war. Bei seinem letzten Aufstieg nahm Noa die Holztür seiner Wohnung mit sich, sodass dort ein hässliches Loch klaffte, das den Blick freigab auf die leeren Räume. In der Nacht angekommen baute er die Holztür in seinen Turm und machte es sich in einem der oberen Zimmer bequem, dass er den Turm nie wieder verlassen müsse. An den schönsten Tagen schaute er von dort aus einem kleinen Fenster hinunter in das endlose Schwarz und dachte an die fernen Dinge, von denen er glaubte, dass er sie darin manchmal funkeln sah.

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»Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.« (Psalm 42,2)


Der Hirsch ist der Feind der Schlange. Wenn ein Hirsch eine Schlange entdeckt, spuckt er Wasser in das Loch, in dem sich die Schlange versteckt, und kommt die Schlange heraus, um Luft zu schnappen, so trampelt er sie zu Tode. Sieht sich ein Hirsch alleine auf einer Steppe oder dem Hang eines Berges, röhrt er in der Hoffnung, so weitere Hirsche anzulocken. Nicht wenige Jäger halten dies für einen majestätischen Anblick, mehrere Künstler haben ihn gar auf Gemälden festgehalten, stets in der Nähe der Hirsche mit ihrer Staffelei. Doch den Hirschen bleiben ihre Beobachter nicht verborgen. Sodass sie die Scheu vor dem Menschen verlieren, mit der Zeit in verschiedenen Gegenden die Angewohnheit entwickeln, sich Menschen und vornehmlich Frauen in den Dörfern zu nähern, den Atem aus den feuchten Nüstern ihnen in den Nacken blasend. Doch die Menschen und vornehmlich die Frauen haben bis heute kein Interesse an ihnen. Und sollte sich doch einmal ein Mensch und vornehmlich eine Frau umdrehen, macht der Hirsch unsichere Schritte zurück, stets die Frau im Blick behaltend, bis er in den Schatten verschwindet. Dort bleibt der Hirsch regungslos stehen und gleicht mit seinem Geweih einem opulenten Gebüsch, in dessen Gewirr sich nur noch die Träume von Schlangen finden lassen.

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