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Niemand leidet unter dem Verlust eines Kindes so wie eine Mutter, weswegen es nicht verwunderte, dass Calla in ihrer Trauer eine Ranke pflanzte. Die Ranke bohrte sich bereits nach wenigen Tagen durch die Wolken und ihre Wurzeln drangen tief ins Erdreich. Calla war bereits 99 Jahre alt, ihr Sohn starb im Alter von 76 Jahren, weshalb sich in seinem Leben gute Taten wie Sünden angesammelt hatten und sie nicht sagen konnte, wo genau nun sie nach ihm suchen sollte. An jedes Ende der jungen Ranke hatte sie einen Zettel gebunden. Es sollten ihre letzten Worte an ihren Sohn sein. Sie stellte sich vor, wie ein Cherub das kleine Stück Papier im Himmel entgegennahm und zu ihrem Sohn trug. Wer den Zettel in der Hölle zuerst lesen würde, wagte sie sich nicht vorzustellen. Sie weinte viele Tränen während dieser Wochen des Wachsens und Streckens der Ranke. Als sie sich unter die Ranke stellte, glaubte sie, einen Chor zu hören. So stand sie die letzten Tage ihres Lebens neben der Pflanze. Eines Morgens fanden sie die Stadtbewohner im Nebel dort, ihre Hand verkrampft um den Stängel, ein müdes Lächeln im Gesicht. Und auch wenn sie ihren Sohn nicht gefunden hatte, so las sie im letzten Augenblick ihres Lebens zumindest einen ihrer Zettel wieder.

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Der Todeshauch tritt zu jeder Zeit und in allen Lebensräumen auf. Entgegen seines Namens kann er in allen Stärken erscheinen. Mal ist er nur eine kleine Gewissheit, der Geruch eines Feldes im Sommer, mal ist er eine gigantische Böe, dem Schweiß eines Plüschtiers hinter einer verspiegelten Glasscheibe gleich. Der Todeshauch will dabei einfach nur sein, er verlangt nichts, er nimmt nichts. Er breitet sich aus, bis sein Moment vorbei ist und die Gewissheit, dass wir alle sterben müssen, sich wieder der Unvernunft ergibt.

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Als der erste Tropfen auf dem Regenschirm zerschellte, saßen Du und ich dort und blickten auf die Fassaden der müden Häuser, deren Fenster so leer waren. Ich fürchtete, dass sie erschöpft von unseren Gesprächen seien, aber Du lachtest darüber, als hättest Du nie etwas Unsinnigeres gehört. Während der nächste Tropfen auf dem Schirm zerbrach, starrte ich auf dieses eine Fenster, auf dessen Dunkelheit, einer Pupille gleich, suchte nach der Regenbogenhaut, fand aber nur Nichts dort hinter dem Glas. Du trankst gerade von Deinem Schwarztee, als der dritte Regentropfen mit einem feinen Geräusch auf dem Schirm zersplitterte und ich den Schatten dort oben sah, wie er vorbeihuschte, ein kurzes Verdrehen des Auges. Du sprachst noch viel. Ich hörte zu, meine Hände krampfend um den Stab des Schirms, stets in Angst, dass uns doch noch ein Tropfen treffen könnte, angefüllt mit Missgunst für uns beide.

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